Rudolf zur Lippe ist am 6. September 2019 gestorben, wie ich dem zwei Tage später, am 8. September, im Berliner Tagesspiegel online veröffentlichten und würdigen Nachruf von Hermann Rudolph entnahm. Und auch für mich plötzlich und unerwartet.
Seine Buchveröffentlichung Sinnenbewußtsein von 1987 war für mich in der Lektüre damals eine enorm prägende Erfahrung, für mich zeitlich gleich nach Moris Bermans The Reenchantment of the World (Cornell University Press, Ithaca NY 1981; dt. 1984, dt. TB 1985). Das waren in den 1980ern die Zeiten, wo man sich grundlegende Gedanken darüber machte, was falsch läuft und wie man es in den Tiefendimensionen (des Bewußtseins und der Sinnenwahrnehmung) ändern könnte. Als man „Erkennen“ wollte, statt nur noch „Verbieten“ zu wollen. Bermans „Reenchantment“ und RzLippes „Sinnenbewußtsein“ verweisen beide überdeutlich auf die überragende Bedeutung von Gregory Bateson im Bezug auf Erkenntnisprozesse.
Die einen nannten das „New Age“; der Rowohlt-Verlag nannte seine Taschenbuchreihe „transformation“. Das „Sinnenbewußtsein“ erschien damals in der Rowohlt-Reihe „Deutsche Enzyklopädie“ als einbändige Taschenbuch-Erstausgabe. Es liegt seit 2000 als zweibändige Hardcover-Ausgabe vor, wie vom Autor einst intendiert.
Ich war so fasziniert von Rudolf zur Lippes Texten und Bildern, dass ich mir ihn während meines Reise-studium-generale (damals, 1987/1988, mit dem „Tramper-Monats-Ticket“ der Deutschen Bundesbahn, zwischen Martin Greiffenhagen in Stuttgart, Robert Kudielka, Peter Simhandl sowie Hans Poser in Berlin und eben Rudolf zur Lippe in Oldenburg), ja, dass ich mir ihn einmal persönlich anschauen wollte, um zu sehen und mich durch Augenschein und Dabeisein davon zu überzeugen, ob seine Berichte von praktischen Universitätsübungen im „Sinnenbewußtsein“ auch tatsächlich und wirklich stimmten. Ich nahm an den damaligen Lehrveranstaltungen als studentischer Gasthörer teil. So kam ich in seinen Kreis der Privatissima, den „Kolloquien für selbständig denkende Menschen“, auch in der Residenz von RzL im Kloster Hude, wo ich mich an anschließende, lebhafte Gespräche mit Jan-Peter E.R. Sonntag erinnere. Durch den Einfluß von Ivan Illich auf den RzL-Kreis meine ich, mich auch an spätere Besuche von Bernhard Pörksen (oder Berichte davon) erinnern zu können. – Peter Gottwald war ebenfalls wesentlicher Teilnehmer des Hude’schen RzL-Kreises, der – mir sehr sympathisch als dortiger Lehrstuhlinhaber für Psychologie – sich sehr intensiv für eine Verwirklichung des „integralen Bewußtseins“ nach Jean Gebser einsetzte. Mit Gebsers Theoremen einer stufenweisen Bewußtseinsevolution konnte Rudolf zur Lippe damals jedoch so gar nichts anfangen, weil ihm das „zu pauschal“ war; er hatte seine Auffassung später vielleicht nochmals überdacht. Bei den Weisheitsmethoden der mythenbasierten Astrologie fand man bei ihm auch keinen Resonanzboden. – Jedenfalls war das Studienklima rund um den „Prinzenpark“ bei den Gebäuden der ehemaligen Pädagogischen Hochschule in Oldenburg ein hoch anregender Geistesraum, der neben den bereits genannten auch auf Arbeiten von Humberto Matorana, Hugo Kükelhaus und Viktor von Weizsäcker beruhte. So etwas hatte man in der deutschen Hochschullandschaft nicht oft, Oldenburg war darin ein Geistes-Unikat.
1989 drehte ich in Oldenburg an der Universität eine kurze Filmdokumentation über Franz Erhard Walther, der dort mit Standstellen (längliche Metallplatten im Boden zum Begehen und Draufstehen) „Kunst am Bau“ machen durfte und diese statt Vernissage persönlich vorführte und damit einweihte; RzL setzte den kunstphilosophischen Rahmen dazu. Reinhard Kahl war damals, stets auf der Suche nach Berichten über Reform-Pioniere der Bildung, mit Kamerateam auch öfters vor Ort.
Von Rudolf zur Lippes umfangreichem und mehrjährigem Projekt der „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ während der 1990er-Jahre erfuhr ich durch seine Berichte und aus den Medien. Ich hatte mich für ein reguläres Studium in Berlin entschieden. Nach seiner Emeritierung und seinem Umzug in die Dovestraße in Berlin-Charlottenburg im Jahr 2002 setzte sich der private Studienkreis eine Weile weiter fort. Ich hielt über die Jahrzehnte immer mal wieder brieflich-freundschaftlichen Kontakt mit ihm, zuletzt zu seinem 80. Geburtstag, als ich ihm einige Aufzeichnungen seiner Rundfunkvorträge aus meinem privaten „Schallarchiv“ zusandte. Mein Geburtstagsgruß kam mit Verspätung an, da ich von seinem Umzug in die Eisenacher Straße und den Nollendorfkiez erst durch seinen Dankesanruf erfuhr.
Energetisch hat er bei mir meine Venus angesprochen und getroffen (3° Krebs in 5) und zwar mit seinem fast gradgenauen Trigon von Mars (1° Skorpion) und Venus (2° Fische). Könnte nicht besser passen und so eine „dynamische Beziehungskomponente“ zieht unvermeidlich die Bezogenen an. Wäre da nicht (in der Synastrie, dem Energiefluß zwischen zweien) meine Sonne (5° Zwilling) auf seinem Orcus, mein Merkur (20° Zwilling) auf seinem Chiron und mein Mars (27° Widder) auf seinem Nessus. Da hält man dann doch entschieden Distanz und bleibt auch dort. Er war mir im Freundschaftlichen stets eine „Sie-Person“ geblieben.
Jetzt wird mir auch klar, dass ich manches bei ihm nicht wirklich so ganz verstanden habe: Wie also die gesuchte Leib-Geistigkeit des Za-Zen-Sitzens bei Karlfried Graf Dürckheim seit 1960 mit den SM-Praktiken und dem Leder-Fetisch zusammenhingen (man kann vieles als Kunst-Performance verkaufen) und witterte dann doch eher Verrat, dass das eine vorgegeben wurde, um das andere anständig betreiben zu können. Vielleicht war es auch nur eine Kompensation von der erdrückenden Steinbock-Ordentlichkeit; sanfter formuliert: eine Leidenschaft in der Passion. Oder aber Dürckheim war eine Möglichkeit, Masochismus auf hohem geistigen Niveau nicht nur zu erlernen, sondern damals bereits avangardistisch als Leibpraxis auch schon betreiben zu können. Vielleicht gibt es einfach auch beides nebeneinander, völlig undramatisch: Die japanische, leibbasierte Geistigkeit bei Dürckheim und den Mr. B. für den Sex-Spaß. Kurse unter dem Titel „SM und Zen: Schmerz, Durchlässigkeit, Hingabe“, wie bei der Berliner Veranstaltungsreihe „Xplore04“, anzubieten, schien mir doch zu sehr den kapitalistisch- merkantilen Tausch-Faktor der Körperlichkeit nicht nur in der schwulen Sexszene Berlins zu ignorieren und ihr dadurch quasi auch noch „höhere geistige Weihen“ verleihen zu wollen, also geradezu das Gegenteil von Leibarbeit zu sein. – Mir erschienen die Forschungen zu Trieb und Gesellschaft bei Michel Foucault damals jedenfalls plausibler; auch wenn Rudolf zur Lippes Praxis –, den Lebensgrund der mystischen All-Einheit als punktueller, transzendierender Raumzeit-Ursprung durch verschiedene Weisen und Methoden vielschichtig sensorisch erfahren zu können (also durch Leibarbeit, Tanz, Bewegung, Agilität, bildnerische Kunstübung, Zen oder SM) – diese Unterscheidung wahrscheinlich egal war. Vieles mag der „schwankende Lebensboden“ der Kinderheit und Jugend erklären helfen, biographisch gesehen.
Und auch beim Berliner „Humboldt-Forum“ waren wir beispielsweise komplett anderer Ansicht. Er schwärmte vom unbedingt notwendigen „Forum der Kulturen“ im Humboldtschen Geiste an zentraler Stätte in Berlin (das ich im grünen Dahlem viel besser aufgehoben sah, weil eben nicht im Brenn-Spot(t) des Hauptstadttreibens) und so sah ich die übliche Berliner Provinzposse der Kulturpolitik im Geiste und in der Antizipation kommen, die wir jetzt mit der neuen Stadtschloss-Simulation auch haben. Mit Staatsakten, wie dem heutigen zum 250. Geburtstag von Humboldt als repräsentatives Event im besagten Ort, wird das „voneinander und miteinander Lernen der Kulturen“ jedenfalls nicht beginnen. Dieses: „es muß schon was ordentlich Reputables sein“, wie vielleicht ein Kloster-Herrenhaus oder ein Palast-Schloss, hat mich denn eher befremdet, auch wenn seine Kunstpraxis von jeglichem Bombast befreit war. Insofern passte der Nobilitätsgrad des „Prinzen“ wirklich. Und wer kann ohne einen in der Nähe zu haben, heutzutage wirklich gut leben? Seine Jugendlichkeit und Frische, gerade im Alter, ließen in mir die Illusion wachsen, er werde immer da sein. Jetzt ist er nicht mehr da und wir werden weiter mit den Erfahrungen, die wir mit ihm machen durften, mit ihm in diesem Sinne weiterleben, in diesen Erfahrungen der Beziehungen der Bezüge des Lebens. Sein Thema: Wie lebt das Leben?
Wenn bei Rudolf zur Lippe etwas im Lebensalltag ins Rutschen zu drohen kam (wie vielleicht mal meine freundschaftliche Bitte um ein Empfehlungsschreiben; Reaktion: Orcus, Nessus, Chiron), konnte er eine Instanz der Korrektheit und ablehnenden Reputationsachtung sein (Fische-Saturn Opposition Jungfrau-Neptun mit Steinbock-Sonne im harmonischen Punkt, ziemlich gradgenau). Jetzt beim Überlauf von Neptun über Saturn und von Saturn über Sonne ist er gestorben. Während die Medien bei den Sterbezeit-Genossen Robert Frank und György Konrád sich mit Nachrufen geradezu überschlugen, war es bis auf den dankenswerten Obituary-Schnellschuss von Hermann Rudolph jetzt eine Woche wirklich fast still um ihn. RzL hat Stille erzeugt. Ich fand, dass es jetzt Zeit wäre, diese zu durchbrechen. Verzeihung, wenn ich damit auch wieder Orcus, Nessus und Chiron mit-ausgelöst haben mag. Er hat wichtige Gedankengänge und Methoden hinterlassen; diese sollen bleiben und wirken, gerade heute.
Was bleibt? Sein Sinnenbewußtsein. Bitte wieder lesen!
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https://trauer.tagesspiegel.de/traueranzeige/rudolf-prinz-zur-lippe
https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/07/postproletarische-sinnerfullung/
https://uol.de/fk3/profil-und-struktur/prinzenpark
https://uol.de/kunst/prinzenpark
Reinhard Kahl, 1992, über die „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“:
https://taz.de/!1661724/
https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/erfurt/erinnerung-an-rudolf-zur-lippe-id227083905.html
Video-Interview mit Rudolf zur Lippe, 2010, Link: https://www.youtube.com/watch?v=HWeoPHPlbj0
https://www.presse.uni-oldenburg.de/mit/2019/299.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_zur_Lippe
Gereifter Blick auf Jean Gebsers Philosophie, anno 2009:
http://www.gewebewerk.silvia-klara-breitwieser.cultd.de/lippe/index.htm
Letzte Meldungen zum „Humboldt-Forum“ und deutscher Kulturpolitik:
https://taz.de/Notwendige-gegenseitige-Aufklaerung/!5631012/
Update 20. September 2019: Ergänzungen und Erweiterungen.
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