Filmhistoriker als die „Leichtmatrosen“ der Historiker-Zunft

Die Internationalen Filmfestspiele Berlin starten heute. Berlinale zum siebzigsten Mal. Vor einigen Wochen haben Veröffentlichungen der Wochenzeitung „Die Zeit“ zur NS-Verstrickung des Berlinale-Gründungsdirektors, Alfred Bauer, für Wirbel gesorgt. Ein „Amateuer-Historiker“ hatte mit einem Verweis auf Dokumente, die seit dem DDR-Zusammenbruch in Archiven verfügbar waren, in einer Email-Zuschrift an die Redaktion der „Zeit“ diese Veröffentlichungen ausgelöst. Ein Paukenschlag. Damit verbunden war die Frage, warum ein Hobby-Historiker aus Passion den Fingerzeig auf diese Aufarbeitungs-Leerstelle legen konnte –– und nicht etwa die gegenwärtige bzw. frühere Leitung der Berlinale oder gar die in historischer Aufarbeitung von Filmgeschichte für Berlin und Berlinale maßgebliche Stiftung Deutsche Kinemathek (SDK) seit zwei Direktoriumsgenerationen für eine deutliche Aufarbeitung oder zumindest Darstellung der Fakten bislang sorgte.

Eine zur diesjährigen Berlinale geplante „Leicht-Broschüre“ zu Alfred Bauer mit einem Umfang von 68 Seiten in der Autorenschaft von Rolf Aurich und – wie der frühere SDK-Bereichsleiter für Publikationen, Wolfgang Jacobsen, im Tagesspiegel-Interview vermutet – redaktionellen Oberaufsicht von Rainer Rother, dem gegenwärtigen Direktor der SDK, wurde kurz vor der Veröffentlichung zurückgezogen; eine angekündigte Buchpremieren-Veranstaltung während der Berlinale wurde ebenfalls gecancelt. Die neue Direktion der Berlinale unter Chatrian und Rissenbeek kündigte an, dass nunmehr „richtige Historiker“ und nicht etwa „Filmhistoriker“ und schon gar nicht die von der „SDK“ für eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Alfred Bauer sorgen sollen.

Zum Auftakt der Berlinale 2020 ist jetzt der Eindruck entstanden, so auch im heutigen DLF-Gespräch mit Julius H. Schoeps, dem Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, dass die in und mit der Berlinale beschäftigen „Filmhistoriker“ kein Interesse an einer Aufarbeitung oder auch nur einer entsprechenden Darstellung gehabt haben. Es ist durch diese Berliner Verhältnisse damit der Eindruck und gleichzeitig die Kalamität entstanden, dass es anscheinend drei Klassen von Historikern der Zunft gibt: die „richtigen und echten Historiker“, denen man die Aufarbeitung der Verstrickungen von zeitgeschichtlichen Personen in den NS-Staat zutrauen kann, –– dann die für’s Unterhaltsame, Oberflächliche und für das unter den Teppich zu Kehrende zuständigen „Filmhistoriker“, die Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden können –– und schließlich die „Amateurhistoriker“, die Steine und damit Ballast der Vergangenheit durch Nachfragen und Insistieren erst in’s Rollen bringen können, weil alle anderen keine Lust darauf hatten. Schlimmer hat es nicht kommen können. Kenner der Verhältnisse in Berlin vermuten indes ein geschichtlich gewordenes System dahinter, das in den Schismen nicht nur der Berliner Filmpolitik ihre Ursachen hat (Trennung der Berlinale-Gegenwartsbezogenheit vom SDK-Vergangenheitsfokus, Trennung der Theorie an der SDK in Publikation, Sammlung und Display von der Kinopraxis der „Freunde der Kinemathek“ im Arsenalkino und deren Sammlungen, etc.) — Wer soviel systematisch voneinander trennt, der trennt auch Traumatisches ab und drängt es ab in den Keller der Geschichte. Insofern passt die Logik.

Durch diese beispiellosen Vorgänge und Versäumnisse ist die Reputation des „Filmhistorikers“ in Deutschland als Zunft in ihrer Gesamtheit ernsthaft beschädigt worden. Von deren Vertretern hört man selbst wenig in der Sache zu ihrer eigenen Verteidigung, wenn man von Wolfgang Jacobsen absieht, der zwei Berlinale-Chroniken publizistisch unter seiner Ägide bei der SDK zu verantworten hatte. Wenn Jacobsen sagt (im Tagesspiegel-Interview), seine Aufgabe sei damals gewesen, die Geschichte der Berlinale darzustellen und nicht deren Vorbelastungen, dann wird man nachfragen dürfen, ob nicht Rothers Vorgänger Prinzler in der Angelegenheit auch in die Erklärungs-Pflicht zu nehmen wäre. Denn spätestens seit der Erstausstrahlung der US-
Fernsehserie Holocaust und den Diskussionen um die „Topographie des Terrors“ durch Rürup in West-Berlin, seit den Exilstudien an der SDK und seit dem Diskurs um das Holocaust-Denkmal unweit des Berliner Filmhauses wird man um die Relevanz des Themas gewusst haben. Man wird, so ist zu vermuten, halt nur ungern dem „anderen Ich“, auf der anderen Seite der Potsdamer Straße, „an’s Bein hat pinkeln wollen“. Vergangenheit und Gegenwart sind an der Potsdamer Straße zwei Welten, schismatisch und nicht nur eine Straßenseite voneinander getrennt.

Ich persönlich halte die Demission des gegenwärtigen Direktors der Stiftung Deutsche Kinemathek aufgrund des Sachstandes für unvermeidlich, selbst wenn noch ein dicke Bretter bohrender Forschungsband zur Causa Alfred Bauer von dort nachgereicht werden würde. Man wird dadurch freilich nicht das die Dynamik verursachende Prinzip des Berliner Schismas beseitigen. Hier wären größere und gröbere Besen zum Kehren notwendig, die schisma-beseitigend strukturell und institutionell eingreifen. In der derzeitigen Verfasstheit mit der Bundeskulturministerin ist daran allerdings nicht zu denken.

Man kann das Schisma als Generalthema für die deutsche Hauptstadt (West-Berlin und Westberlin, Berliner Mauer, Ost und West, etc.) auch als direkte Folge des unbewältigbaren NS- und Holocaust-Traumas werten und die hochintegrierte, damalige NS-„Reichfilmkammer“ als Auslöser insbesondere für die vielen Spaltungen und Abspaltungen der in Berlin mit Film und Kino befassten öffentlichen Institutionen.
Die Vergangenheit wirft lange Schatten, auch in die Archiv-Kabinette. Die SDK feiert synchron dazu 100 Jahre „Das Cabinet des Dr. Caligari“.

 

https://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-zum-fall-des-berlinale-gruenders-bauers-mitgliedschaft-in-der-sa-war-lange-bekannt/25500320.html

https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutsche-kinemathek-streiten-fuers-kino/23811578.html

https://www.tagesspiegel.de/kultur/ns-vergangenheit-von-berlinale-chef-eine-vertane-chance-fuer-die-historische-aufarbeitung/25493116.html

Audio-Link DLF-Interview mit Julius H. Schoeps am 20.02.2020 https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/02/20/interview_mit_julius_h_schoeps_mendelssohn_zentrum_zu_dlf_20200220_0822_56836a88.mp3

Update, 22.02.2020, weitere Links:

https://www.berlinale.de/de/presse/pressemitteilungen/detail_40904.html?openedFromSearch=true

https://www.rbb24.de/kultur/berlinale/beitraege/2020/alfred-bauer-direktor-ns-vergangenheit-wolfgang-jacobsen.html

https://www.rbb24.de/kultur/berlinale/beitraege/2020/berlinale-2020-ohne-silberner-baer-bauer-preis-ns-vergangenheit.html

Audio-Link RBB-Inforadio, Sendereihe Geschichte, 22.02.2020 https://rbbmediapmdp-a.akamaihd.net/content/fc/d7/fcd72c79-42a9-4409-8987-f89b6c4dec94/cccbd7d4-898e-44d1-b4d1-155e09d796ed_2c0517ca-93a4-41db-88cf-6f6267f3549b.mp3

https://www.bazonline.ch/kultur/kino/die-nazivergangenheit-verdunkelt-die-berlinale/story/10057881

https://www.fr.de/kultur/tv-kino/berlinale-affaere-nazi-vergangenheit-daemonen-alfred-bauer-13519509.html

https://www.perlentaucher.de/efeu/2020-02-01.html#a76476

https://www.deutschlandfunkkultur.de/alfred-bauer-und-die-berlinale-in-den-kontext-der.2168.de.html?dram:article_id=469277

Video-Link RBB-Kultur, 15.02.2020 https://www.ardmediathek.de/rbb/player/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpbmUuZGUvcmJia3VsdHVyLzIwMjAtMDItMTVUMTg6MzA6MDBfZWJiNjFlMTYtZmZjZS00ZDNiLWE0NTAtMGNiODMzNmI3YzNmL2FsZnJlZC1iYXVlci1iZXJsaW5hbGUtY2hlZi1uYXppLXByb3BhZ2FuZGE/alfred-bauer-im-spiegel-der-zeit

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